Berlin – Das Bundessozialgericht (BSG) hat eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Therapie von angeborenen Brustfehlbildungen vorgelegt (B 1 KR 35/15 R). Bislang wurden etwa kaum vorhandene Brüste in aller Regel als medizinische Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung korrigiert. Das BSG-Urteil bestätigte nun aber die Ansicht der Versicherung, dass die Fehlbildungen ein ästhetisches Problem seien – zum Nachteil der Betroffenen.
Im vorliegenden Fall hatte eine junge Frau mit einer genetischen Erkrankung, die zu einem vollständigen Fehlen der Brust geführt hat, den Brustaufbau durch Silikonimplantat beantragt. Da sie über kein Drüsengewebe verfügte, war ihre Stillfähigkeit beeinträchtigt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) hatte eine Kostenübernahme abgelehnt, da er eine rein „kosmetische Indikation“ sah. Die Patientin klagte daraufhin vor dem Sozialgericht und erhielt Recht. Das Gericht sah nachvollziehbar eine schwere Beeinträchtigung durch das vollständige Fehlen des geschlechtstypischen Erscheinungsbildes einer Frau und somit eine behandlungsbedürftige Erkrankung.
Die Krankenversicherung ging hierauf allerdings in Revision und erhielt Recht. In der Begründung wurde darauf verwiesen, dass die fehlende Brustanlage zwar eine Krankheit darstelle – die eigentliche körperliche Funktionsfähigkeit (das Stillvermögen) durch ein Silikonimplantat jedoch nicht wiederhergestellt werden könne. Zudem erschien das Ausmaß der Entstellung den Richtern nicht ausreichend. Hierfür müsse diese schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar sein und regelmäßig zu einer Fixierung des Interesses führen, Neugier oder Betroffenheit auslösen. Zum Vergleich wurde ein zusätzlicher sechster Finger an der Hand angeführt, der nach Meinung der Richter ebenfalls diesen Anspruch nicht erfülle.
Bereits das Beispiel mit dem sechsten Finger geht an der Thematik offensichtlich vorbei. Wir halten die hier getroffene Entscheidung des Bundessozialgerichts für sachlich nicht zutreffend und für den bisher geübten Alltag in der Behandlung von Patientinnen mit Brustfehlbildungen für ausgesprochen problematisch. Wenn sich die Kostenträger auf dieses Urteil stützen sollten, würde wahrscheinlich einer Reihe von Patientinnen mit einem nachvollziehbaren Leidensdruck Leistungen der gesetzlichen Versicherung vorenthalten werden. Hier sei darauf hingewiesen, dass, unabhängig von allgemeinen Urteilen, laut Sozialgesetzbuch V noch immer durch Einzelfallentscheidung versucht werden muss, zu einer sachlichen, individuellen Bewertung zu gelangen.
Ohne Frage ist im plastisch-chirurgischen Alltag eine Vielzahl der brustformverändernden Eingriffe ästhetisch motiviert und wird von Plastischen Chirurgen, die sich an den Ehrenkodex der DGPRÄC halten, auch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt. Es gibt jedoch unzweifelhaft seltene Indikationen, die medizinisch notwendig, sinnvoll und zweckmäßig sind. Dazu gehört aus unserer Sicht das vollständige Fehlen der Brustanlage oder eine anlagebedingte signifikante Fehlbildung. Dieses ist auch nach bisheriger Auffassung des MDK, die sich in der üblichen Begutachtungspraxis spiegelt, sowie nach ärztlicher Expertenmeinung eine Krankheit im Sinne des Gesetzes, weil hier der Sachverhalt der „krankheitswertigen Entstellung“ erfüllt ist. Grundsätzlich liegt eine Entstellung vor, wenn die äußere Gesamterscheinung in unästhetischer Weise verunstaltet wird [1].
Diese „krankheitswertige Entstellung“ wurde in vorangegangenen Urteilen (BSG, Urteile vom 10.02.1993 – 1 RK 14/92, vom 20.06.2005 – B 1 KR 28/04 B und vom 28.02.2008 – B 1 KR 19/07 R) als eine „mit alltagsüblicher Kleidung nicht kaschierbare“ Entstellung definiert, welche „die Aufmerksamkeit unbeteiligter Dritter“ auf den Betroffenen lenkt, so dass er „zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist“.
Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist
Die daraus resultierende verletzende, ungewollte Aufmerksamkeit macht nach dieser Auffassung den überwiegenden Krankheitswert aus. Bei einer komplett fehlenden Brust muss von diesem Zustand ausgegangen werden, da diese in alltagsüblicher Kleidung immer auffällt, insbesondere in den Sommermonaten. Da die Brustanlage völlig fehlt, hätte auch ein BH wenig Halt und schlechten Sitz, so dass hier – im Gegensatz zu einer nur zu kleinen Brust – auch nicht das Kaschieren mit einer Epithese empfohlen werden kann.
In seiner Urteilsbegründung widerspricht das BSG seiner bisherigen jahrelangen konsistenten Rechtsauslegung, indem es im vorliegenden Fall nicht von einer krankheitswertigen Entstellung ausgeht. Zudem weist der Hinweis auf die fehlende Stillfähigkeit als einzig relevanten Krankheitswert auf ein antiquiertes Frauenbild hin. Man kann nur an die Betroffenen appellieren, dass sie im Einzelfall ihren Anspruch auf medizinische Behandlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin geltend machen, und ihnen unsere Unterstützung bei der medizinischen Begründung zusichern.
Dr. med. Uwe von Fritschen, Leiter der AG Mammarekonstruktion der DGPRÄC
Prof Dr. med. Dr. h. c. Raymund E., Präsident der DGPRÄC
[1] Lackner/Kühl, 27. Auflage München 2011, § 226 Rdn. 4; Rengier, StrafR BT II, 15. Auflage München 2014, § 15 Rdn. 18 ff.